Los Angeles - New York per Rad

Cape Girardeau - Ullinn - Cave In Rock - Dover - Clarksville - Nashville - Cave City - Harrodsburg - McKee - Hazard

„Long time, no see!“ Oder warum wir uns seit längerem nicht mehr gemeldet haben.

Wir sind keineswegs vom richtigen Weg abgekommen, obwohl wir manchmal die geplante Route verlassen haben. Nach der Lektüre dieses Berichts werdet ihr wieder auf dem Laufenden sein.

Sommer! Urlaubszeit! Seid ihr bereits verreist oder geniesst ein bisschen „dolce far niente“ zuhause? Herrscht immer noch Arbeitsalltag? Oder habt ihr noch gar keine Ferienpläne geschmiedet? Falls ihr Lust habt, ein paar Wochen mit uns zu verbringen, würden wir uns riesig freuen. Wir garantieren euch viel frische Luft, hochsommerliche Temperaturen und jeden Tag mindestens einen Adrenalinschub. Wir versprechen euch nicht nur das Blaue vom Himmel herunter, sondern auch Donnergrollen und Blitzlichtgewitter. Wir bieten euch Rührei, Speck und Pancakes zum Frühstück, jede Menge körperlicher Ertüchtigung, eine Übernachtung auf dem Bauernhof, ab und zu fantastische Velowege, Begegnungen mit grossartigen und grossherzigen Menschen und viel Countrymusik. Wir verheimlichen euch keine schmerzenden Popos, keine von Mäusen angefressene Bettwäsche, keine Hundeangriffe und keine platten Reifen.

Wir lassen uns in die offenen (Land-)karten schauen und fragen euch wieder einmal:
Ready? Yes? Let’s go!

Willkommen in Illinois!
Als erstes überqueren wir den wegen des vielen Regens Hochwasser führenden Mississippi. Vor vier Jahren
haben wir ihn als kleines Rinnsal im Norden der USA das erste Mal als Begleiter gehabt. Und jetzt stehen wir auf der
riesigen Brücke und staunen über die gewaltigen trüb-braunen Wassermassen. Das sei die übliche Farbe des Flusses hier,
werden wir von Judy, einer einheimischen Bikerin, welche uns ein Stück weit begleitet, aufgeklärt. „…too thick to drink, too thin to plow…“, sagt sie und erzählt gleich weiter, wie sie anno 1976 zusammen mit 3'999 anderen Velofahrern die zum 200. Unabhängigkeitstag der USA eröffnete Radroute, den auch von uns teilweise befahrenen „Transamerica Trail“ unter die Räder genommen habe. Wie alt die sportliche, zierliche, aufgestellte Dame damals wohl gewesen sein mag, denkt sich die nebenher strampelnde, keuchende, schwitzende Annegret und entschuldigt jeden Schweisstropfen mit dem schweren Reisegepäck.

Apropos schweres Reisegepäck. Die Winterjacken, die dicken Socken und die langärmligen Shirts schicken wir nach Hause. Bei Tagestemperaturen zwischen 30 und 45 Grad werden diese nicht mehr gebraucht. Das fehlende Gewicht ersetzen wir mit zusätzlichen Wasserflaschen.

Wann haben wir eigentlich das letzte Mal im Zelt übernachtet, fragen wir uns in Cave-In-Rock, diesem winzig kleinen Städtchen mit dem riesigen, gepflegten, öffentlichen Campingplatz. Der beste Standplatz befindet sich direkt neben der sauberen Dusch- und WC-
Anlage und ist natürlich für ein luxuriöses Wohnmobil gedacht. Unser mickriges Schlafgemach beansprucht nur wenig Platz, den Strom- und Wasseranschluss benötigen wir auch nicht, unsere Fahrräder kommen sich auf dem Privatparkplatz etwas verloren vor. Den vollen Preis für diesen Superplatz bezahlen wir trotzdem und können dafür grosszügig Christian, den Tourenfahrer aus Schweden, der etwas später müde und verschwitzt auf dem Zeltplatz einfährt, als unseren Gast auf dem gemieteten Grundstück einladen.

Ein Abend unter Europäern, der Spaziergang zu der riesigen Höhle am Ufer des Ohio Flusses, ein von Glühwürmchen beleuchteter „Heimweg“ zurück zum Zelt; in dieser Nacht bleibt keine Zeit zum Tagebuch schreiben oder Tourendaten aufzeichnen, denn am nächsten Morgen früh überfahren wir bereits die nächste Staatengrenze. Die Fähre bringt uns bei strahlendem Sonnenschein in 10 Minuten über den Ohio River nach Kentucky. Hier verlassen wir die Veloroute und fahren über fast verkehrsfreie Nebenstrassen, vorbei an Getreidefeldern und unzähligen kleinen Kirchen Richtung Süden. Weil wir stresslos und gemächlich dahinfahren, haben wir viel Zeit, die verschiedenen Strassenschilder und Wegweiser zu studieren. Zum Glück, denn sonst hätten wir wohl die Abzweigung zum „Ballenberg von Kentucky“ hier natürlich „Homeplace 1850“ genannt, verpasst, und damit auch die Familie, welche den Bauernhof noch nach alter Vätersitte und in Baumwollkleidern, welche nicht unbedingt der neuesten Pariser Mode entspricht, bewirtschaftet. Und wir hätten weder die Bisonherde beim Bad im Tümpel gesehen, noch die von Martin im Video festgehaltene Naturkunde-Lektion „Würge-Schlange verspeist andere Schlange bei lebendigem Leib“ erlebt. Wir hätten noch mehr zu erzählen. Von Kaffee zum Beispiel, der extra für uns zum Frühstück aufgebrüht, den amerikanischen Gästen aber vorenthalten wird, da für sie zu ungesund und zu stark, von Motelbesitzern, die in jungen Jahren Zirkusartisten waren und in Filmen wie „King Kong“ und „der weisse Hai“ mitgewirkt haben, von Angestellten im Touristenbüro, die für uns die Türe eine halbe Stunde früher öffnen, von einer ornithologisch interessierten Dame, die uns auf den seltenen Weisskopfadler, der im Park brütet, aufmerksam macht und uns eine dicke Broschüre über das Wappentier der USA schenkt (siehe auch Abschnitt „Gewicht und Reisegepäck“) und, und, und…

Was Kentucky sonst noch für uns bereit hält, erfahren wir erst später, denn wir sind bereits in Tennessee und peilen ein weiteres Highlight unserer Reise an: Nashville, Musictown.

Hier wollen wir unseren treuen Stahlrössern eine Pause gönnen, einen Tag das Herz der Country Musik schlagen hören, um uns anschliessend per Mietwagen Richtung Michigan zu Annegrets ehemaligen Gasteltern, unserer amerikanischen Familie, aufzumachen. Für die Realisierung dieser Pläne brauchen wir zwingend: einen Veloladen mit Werkstatt, eine Autovermietung, ein Hotel, möglichst alles nebeneinander im Zentrum. Die Zusammenarbeit in unserem Zweierteam funktioniert einmal mehr bestens: Martin ist zuversichtlich, dass es schon irgendwie klappen wird, Annegret macht sich seit Tagen (gelinde gesagt) Gedanken… Und wieder einmal haben wir das Glück gepachtet.

Während der Kaffeepause an einer Tankstelle spricht uns ein Geschäftsmann (erkennbar am weissen Hemd,
der langen Hose und an der Krawatte, im Gegensatz zu allen andern, die in Shorts, T-Shirt und Baseballmütze gekleidet
sind) an. Er fahre selber auch sehr viel Velo, halt eher auf den Radwegen rund um Nashville, erzählt er. Achtung jetzt: natürlich kennt er einen Bike-Shop, sogar einen ganz guten, downtown, wo sein Sohn einmal als Velomechaniker gearbeitet habe. Und dank I-Phone (seinerseits) und Notizblock und Kugelschreiber (unsererseits) halten wir die für uns so wichtige Information in
Händen. Dass wir genau diesen netten Robert fünf Stunden und ca 70 Kilometer später nochmals treffen, als er uns zum
zweiten Mal überholt und am Strassenrand anhält, uns seine Visitenkarte mit privater Telefonnummer in die Hand drückt,
mit der Aufforderung, uns zu melden, wenn wir in Nashville irgendwelche Probleme hätten, grenzt bei so viel Verkehr
fast an ein Wunder. Der Rest der Nashville-Geschichte ist schnell erzählt:

Telefonisch melden wir unsere Velos für einen grossen Service an, der freundliche Typ am Telefon empfiehlt uns gleich die in der Nähe gelegene Autovermietung und (Internet sei Dank) finden wir auch ein Hotel in der Grossstadt, welches trotz Touristen-Hochsaison und Wochenende noch ein Zimmer für uns frei hat. Wir scheinen das Glück wirklich gepachtet zu haben, denn wir ergattern sogar noch zwei der allerletzten Tickets für das samstägliche Konzert in der Grand Ole Opry, der Bühne, auf welcher es für alle Country Music Stars eine Ehre ist, aufzutreten. Wir freuen uns über die Auftritte von Altstar (Coalminer’s Daughter)
Loretta Lynn und (dem nicht so alten, aber auch berühmten) Vince Gill und vielen anderen. Wenn wir nicht in der
obersten Reihe der extrem steilen Konzerthalle sässen und etwas mehr Platz zwischen den Sitzreihen vorhanden wäre, wer weiss, vielleicht würden wir sogar ein kleines „Linien-Tänzchen“ wagen!

Und jetzt fahren wir in die Ferien. In Michigan sind wir zuhause. Dort lassen wir uns bemuttern und verwöhnen. Wir werden umarmt und bekocht. wir können ausschlafen und von der Terrasse aus die Vögel beobachten. Wir sprechen über unsere Familien, das Schulwesen und die Politik. Wir besuchen unsere Freunde am Michigan See und können in deren BMW-Motorrad-Geschäft der Versuchung nur knapp widerstehen, uns mit dem restlichen Reisegeld ein etwas grösseres Zweirad zu erstehen, um die letzten Etappen unserer Tour motorisiert zu bewältigen…

Nach einer Woche sind wir, immer noch mit Abschiedstränen in den Augen, wieder auf unseren mit neuen Ketten ausgerüsteten Lasteseln unterwegs. Das fahrradfreundliche Nashville überzeugt uns noch einmal mit einem wunderbaren Veloweg hinaus aus der Grossstadt. Etwas verwöhnt vom Komfort der letzten Tage, fällt es uns nicht mehr ganz so leicht, in schmuddeligen Motelzimmern zu
übernachten und mit schlecht abgewaschenem Besteck zu essen, auf fleckigen Stühlen mit zerschlissenen Polstern zu sitzen und ein paar Tage auf frisches Obst zu verzichten.

Es ist Hochsommer. Schon seit längerem starten wir am Morgen früh in kurzen Hosen und ärmellosen Shirts. Die Luftfeuchtigkeit beträgt sehr haut- und faltenfreundliche 90%. Wir sind wieder in Kentucky, im Land der weidenden Pferde, der weissen Zäune, der roten Scheunen. Der Kentucky Veloalltag besteht für uns aus Fahrten auf guten bis sehr guten Strassen, die leider auch häufig durch Wald ohne Aussicht oder Fernblick führen, aus mindestens einem Regenguss pro Tag und aus sorgfältigem Planen der Tagesetappen, da die Übernachtungsmöglichkeiten rarer werden. Aber da gibt es ja auch noch die unerwartete, freudige Überraschung namens Joel. Er hält mit seinem Pickup neben uns an der auf Rot geschalteten Ampel und lädt uns kurzerhand ein, bei ihm und seiner Familie auf der kleinen Farm zu übernachten. Wir seien doch nicht etwa Vegetarier, es gäbe nämlich gegrillte
Schweinesteaks zum Nachtessen. Seine Frau habe überhaupt nichts gegen unangekündigten Besuch. Sie sei Lehrerin und habe
ein Semester in Florenz studiert und kenne ihn (ihren Ehemann) und seine spontanen Entscheidungen seit langem.
Tatsächlich fühlen wir uns bei der jungen Familie sofort sehr wohl. Martin hilft nach dem Essen beim Pferde-in-den-Stall-treiben und die Kinder zeigen uns voller Stolz das neue Bauernhaus, in das sie nächstens umziehen werden. Am nächsten Morgen fällt es uns wieder etwas schwerer, die Räder anzuschieben und loszufahren. Das Gästezimmer mit eigenem Bad, der Kurzurlaub auf dem Bauernhof scheinen verlockender als steile Anstiege in den Appalachen und die Tornado-Warnung am Fernsehen.

Bis jetzt hat Martin alle Hundeangriffe ohne Pfefferspray oder Dosensirene erfolgreich abgewehrt. Auch mit den grossen mit Kohle beladenen Lastwagen haben wir bis anhin keine Probleme, obwohl die Strassen schmal und wenig übersichtlich sind. Die Hunde in Virginia sollen weniger aggressiv sein, die Lastwagen weniger werden. Bereits sehen wir das Willkommensschild: „Virginia Welcomes You!“

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