Los Angeles - New York per Rad

Leoti - Hutchinson - Pittsburg - Marshfield - Houston - Centerville - Cape Girardeau

Seit Wochen freuen wir uns auf die Fahrt durch Kansas, dieses topfebene Stückchen USA, wo die Einheimischen die vielen Getreidesilos als Skyscrapers (Wolkenkratzer) bezeichnen, weil es hier einfach nur flach ist und von dem gesagt wird, dass es hier mehr Kirchen als Bäume gibt. Auf dem Schild an der Staatsgrenze lesen wir: „Ad astra per aspera“. Als bekennende Nicht-Lateiner bemühen wir das Internet und googeln „Durch das Rauhe zu den Sternen“ und begnügen uns dann mit der freien Übersetzung „Ohne Fleiss kein Preis“. Ja, fleissig scheinen die Bauern hier zu sein.

Wohin wir auch blicken, nichts als saftig grünes Landwirtschaftsgebiet, gepflegt angelegte Felder, Bewässerungssysteme, Rinderherden von bis zu 60 – 70‘000 Stück Vieh (was sind da schon Peter Hinnens 7000 Rinder…). Hier wollen wir also
mühelos dahin pedalen, immer geradeaus gegen Osten, unseren Gedanken freien Lauf lassen, über Sinn und Zweck dieser
Reise nachdenken, vielleicht sogar etwas Vorsprung auf die Marschtabelle herausfahren. Genau!
Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt…

Seid ihr trotzdem dabei und begleitet uns? Ready? Ganz sicher? Ok, „Let’s win the battle“! Go!

„Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ – wohl eher ein hinterlistiger Lausebengel, der dem Teufel vom Karren gefallen ist. Tagelang stürmt er uns mit voller Wucht entgegen. Im kleinsten (!) Gang erreichen wir leicht bergab strampelnd noch knapp 8 km/h. Wie viele Stunden wir auf dem Sattel sitzen müssen, um unseren Tagesdurchschnitt von ca. 90 Kilometern zu erreichen, brauchen wir nicht vorzurechnen. Die drei Ks (Kinder, Küche, Kirche) bekommen für uns eine völlig neue Bedeutung: in KANSAS KOMMT die KRISE. Jetzt ist positives Denken angesagt. Das in den Kursen über Krisenmanagement Gelernte sollten wir nun anwenden können. Aber was tun, wenn die positiven Gedanken aus dem Kopf gepustet, die Rezepte zur Konfliktbewältigung vom Winde verweht sind? Nach drei Tagen sind die Batterien und die DulX-Flasche leer, die Nackenmuskulatur verkrampft und die Stimmung gedrückt.

Glücklicherweise habt ihr unsere Mailbox mit vielen guten Wünschen zu Annegrets Geburtstag gefüttert: „Lass dich verwöhnen“ und „Gönn dir etwas Gutes“ lesen wir und setzen alles sofort in die Tat um. Martin verwöhnt seine Angetraute und lässt sie den ganzen Tag im Windschatten fahren und zum Nachtessen gönnen wir uns beide eine Portion Teigwaren mit Sauce in der „Pizza Hut“, dem einzigen Restaurant, das wir zu Fuss erreichen können. Irgendwann kommen wir auf die Idee, das erste Mal auf unserer Tour, uns die Ohren zuzustöpseln und so zu versuchen, die fast unerträglichen Windgeräusche mit Konserven aus dem MP3-Player zu übertönen. Aber auch bei voller Lautstärke können wir nicht hören, ob „What a beautiful day“, „Get the kicks on route 66“ oder die
27. Lektion von „Englisch für Anfänger“ läuft.

Im Fernsehen und Internet sehen wir schreckliche Bilder von zerstörerischen Tornados in Oklahoma. Das ist ja ganz in unserer Nähe. Darum verfolgen wir den Wetterbericht ganz genau und beobachten den Horizont. In jedem Restaurant, jeder Tankstelle, in jeder Hotelhalle läuft der Fernseher auf dem Wetterkanal. Doch das Wetter ist strahlend schön und warm, keine WIRBELstürme. Bis wir eines Morgens kein Tosen, sondern nur noch Geplätscher hören. Es giesst wie aus Kübeln. Es scheint, als könne das Wetter in Kansas nur eine Sache gleichzeitig tun, nämlich winden oder regnen. Das erste Mal in unserer Radlerkarriere freuen wir uns also, trotz Regenbekleidung bis auf die Haut durchnässt, auf dem Sattel zu sitzen. Martins Füsse sind nach 2 Stunden das einzig
Trockene (Tipps und Tricks: mitsamt über den Knöcheln zusammengebundenen Plastiksäcken und direkt so in den Pedalen
eingeklickten Schuhen; danke Ruedi Anneler!)

Kansas wäre das Velofahrerparadies schlechthin. Per Gesetz sind die Automobilisten nämlich dazu verpflichtet, beim Überholen der Zweiräder mindestens 3 Fuss Abstand zu halten. So haben wir auch immer gefahrlos Platz, am Strassenrand unsere Velos zu parkieren, wenn wir immer wieder anhalten, um Dutzende von Schildkröten beim Versuch, die Strasse zu überqueren, zu retten, das heisst, zuerst ihre Marschrichtung herauszufinden und sie dann auf die gewünschte Strassenseite zu tragen. Die Exemplare varieren von fünflibergross bis ca 2 Kilogramm schwer. Am aufwändigsten sind die Schnappschildkröten. Die sollte man nach Auskunft des Tierarztes, den wir eines Abends in der Bar treffen, eigentlich am Schwanz anfassen, da ihr Hals doch nicht so lang ist, dass sie aus
dieser Position noch zuschnappen können. Soweit geht jedoch unsere Tierliebe dann doch nicht, und Martin macht sich in
diesen etwas komplizierteren Fällen jeweils mit einem Ast ans Werk.

Leider können wir für die unzähligen überfahrenen Gürteltiere nichts mehr tun. Diese nachtaktiven gepanzerten Geschöpfe, welche wir bisher nur im Zoo gesehen haben, die ungeliebten, aus Mexiko eingewanderten, sollen wir grossräumig umfahren und ja nicht berühren, da sie teilweise mit Lepra infiziert seien, warnt uns der Tierarzt. Wir möchten noch viel mehr wissen, doch das Gespräch nimmt dann einenanderen Verlauf, als ein weiteres Original aus dem kleinen Ort Eureka, Kansas uns überreden will, doch noch zwei Tagezu bleiben und am alljährlich stattfindenden „Mud Race“, dem Motorrad-, Traktor- und Pickup-Truck- Schlamm-und-Dreck-Rennen, teilzunehmen. Wir wären ganz bestimmt die einzigen Teilnehmer in der neu zu schaffenden Kategorie „Bicycle“
und hätten garantiert gute Gewinnchancen…

Manchmal sind wir fast versucht, unsere Fahrräder, anstatt sie bei uns im Motelzimmer übernachten auf dem Dorfplatz stehen zu lassen, nicht abgeschlossen selbstverständlich. Vielleicht erbarmt sich einer und begeht einen Diebstahl. Doch dann besinnen wir uns auf die Freiwilligkeit unseres Velotour-Unterfangens und träumen davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, wenn Kansas nur aus Wasser bestünde und wir nach unserer Pensionierung hier eine Windsurf- und Segelschule eröffnen würden.

So, bitte alle wieder aufsteigen! Wir überfahren die Grenze nach Missouri. Und hier ist alles ganz anders! In Missouri sieht es ein bisschen aus wie im Emmental oder wie im Allgäu, nur viel bewaldeter. Der Wald besteht aber praktisch nur aus Laubbäumen, vor allem Eichen und Ulmen. Es ist hügelig. Wir fahren entweder bergauf oder bergab. Flachstücke gibt es fast keine. „Rolling Hills“ werden diese kurzen steilen Anstiege und ebenso kurzen Abfahrten hier genannt. Wir versuchen das zu verstehen, denn eigentlich sind wir ja diejenigen, die „rollen“ und die Hügel sind eher stationär. Doch nach einem 110 km-Tag mit exakt gleicher Start-
und Zielhöhe und dazwischen 1200 geleisteten Höhenmetern ist es uns meistens egal, wie die Rollen verteilt sind.

In Missouri gab es früher viel mehr Bauernbetriebe, die Milchwirtschaft betrieben haben, sagt man uns. Heute sehen wir Muttertierhaltung und Ackerbau. Allerdings könnte momentan problemlos Reis angepflanzt werden. Nach einer mehrjährigen
Dürre hat es diesen Frühsommer viel zu viel geregnet und die Felder sind häufig überschwemmt. In Missouri begegnen wir
so vielen Tourenfahrern wie noch nie in den USA. Da wir uns streckenmässig etwa in der Hälfte der Transamerika-Route
befinden, ist es logisch, dass wir die ersten Gleichgesinnten, welche die Reise vor zirka 6 Wochen an der Ostküste
begonnen haben, hier kreuzen. So halten wir täglich zwei- bis dreimal an, um uns mit „Westbounders“ auszutauschen, nach
Start und Ziel zu fragen, Wetterverhältnisse zu besprechen oder die Ausrüstung des einen oder anderen zu bewundern oder
uns darüber zu wundern, wie man so schlecht ausgerüstet eine solche Tour überhaupt in Angriff nehmen kann. Allerdings
sind wir in Kansas etwas mundfaul geworden, wir hätten beim starken Wind sowieso kein Wort verstanden. Darum bekommen
wir hier zusätzlich auch noch Muskelkater rund um die Mundpartie als wir einer geführten Gruppe von 14 Fahrern begegnen, welche uns in Abständen von 5 bis 10 Kilometern alle dasselbe fragen und uns vor denselben Hunden warnen.

Annegret mag Hunde, am liebsten diejenigen, die sich am Kopf kraulen lassen, Pfötchen geben oder treuherzig dreinschauen. Die Hunde in Missouri sind anders. Sie müssen häufig zusammen mit ihren zwei oder drei Hundefreunden daheim bleiben, das Haus hüten oder gelangweilt warten, bis die nächsten strammen Waden vorbeistrampeln. Das freut sie meistens so sehr, dass sie laut bellend auf uns zurasen, versuchen, uns den Weg abzuschneiden und uns zum Absteigen zu bewegen. Das gelingt ihnen bei Martin praktisch immer, bei Annegret nie. Diese schaltet jeweils einen Gang höher, macht sich aus dem Staub und überlässt ihrem Mann die Lösung des Problems. Dieser weist die Zähnefletschenden mit furchteinflössend erhobener Lehrerstimme zurecht, was seiner Meinung nach so gut funktioniert, weil alle Hunde sein perfekt artikuliertes Berndeutsch verstehen. Andere Tourenfahrer halten für diese Hundeattacken, die in Missouri gehäuft vorkommen und (wenn wir den Erzählungen glauben wollen) in Kentucky noch
zunehmen werden, Pfefferspray bereit. Von dieser Methode hält Martin gar nichts, vertraut lieber auf sein Stimmorgan und auf die schnellen Beine seiner Frau…

In Missouri darf in Restaurants noch geraucht werden und auch das Tragen von Waffen ist wieder erlaubt. In Missouri  machen wir die Bekanntschaft mit den ersten Mücken und in Missouri verstehen wir die Leute manchmal nicht, wenn sie mit uns sprechen. Es scheint uns, als sprächen die Einheimischen Englisch mit noch stärkerem Akzent als wir.

Nach 5000 Kilometern im Sattel und mehr als 40‘000 Höhenmetern in den Beinen sind wir für die zweite Hälfte unserer Tour voll motiviert und freuen uns darauf, sie mit eurer moralischen Unterstützung in Angriff zu nehmen. Danke vielmals für eure Mails und
die SMS und die vielen meteorologischen News. Wir freuen uns natürlich, dass der Sommer endlich auch in der Schweiz
angekommen ist und wünschen allen vom Hochwasser Betroffenen, dass die Wassermassen schnell abfliessen und sich die
Lage normalisiert.

See you soon in Illinois und Kentucky!

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