Mobility as a Human Right

Benedikt Loderer
Text (in German) taken from Der Bund as of November 22nd, 2013, and translated into English
Published here with the kind allowance of the author

We will become amazed

Nothing goes - Image Alexander Blumzoom
Nothing goes - Image Alexander Blum

Mobility is a human right. It makes human beings lazy, and it destroys our environment.

One can deal with it only with the truth about its costs. And this will become very expensive.

An essay

Wir haben die Mobilität zugut, das steht fest. Sie ist selbstverständlich und bedarf keiner Begründung. Autofahren ist ein Menschenrecht. Wirklich?

Eine einfache Überlegung bringt die Gewissheit ins Wanken. Die Menschenrechte sind alt und altmodisch, sie stammen aus einer vorindustriellen Zeit. Sie sind eine Erfindung von Fussgängern, Reitern und Kutschenfahrern. Historisch lässt sich der Anspruch auf Mobilität aus den Menschenrechten, jener 'Mischung von Naturrecht, Vernunft und Gerechtigkeitssinn, nicht begründen. Das Menschenrecht ist immobil. Ist Mobilität ein Menschenrecht?

Die fünf Stufen

Schauen wir uns doch die Mobilität etwas genauer an. Sie hat fünf Stufen.

Die erste ist dem Menschen angeboren, er kommt als künftiger Fussgänger zur Welt. Doch der ist höchstens mit gemeint, wenn man heute von Mobilität redet. Den Fussgänger kann man in der Mobilitätsrechnung vernachlässigen. Er passt sich an, findet unauffällig seinen Weg.
Pauvre type.

Die zweite Stufe erklimmen jene, die mit einem mechanischen Gerät, aber eigener Muskelkraft vorankommen. Velofahrer zum Beispiel, aber auch die Rollbrettfahrer.
Les sportifs.

Die dritte Stufe erreichen alle, die mit einem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs sind. Für sie gibt es in der Schweiz ein perfekt ausgebautes, kollektives, öffentliches Verkehrssystem, für dessen Dichte und Verlässlichkeit uns die Welt beneidet. Es besteht aus drei Hauptträgern: Bus, Tram und Eisenbahn und hält die Schweiz in Betrieb.
Metro, boulot, dodo.

Die vierte Stufe erklettert, wer ein eigenes Automobil besitzt. Die Bequemlichkeit fährt Auto, jeder, wann es ihm passt, jede, wohin sie will. Diese Einrichtung heisst motorisierter Individualverkehr und wird allgemein als Instrument der persönlichen Freiheit geschätzt. Für viele ist es auch eine Lebensnotwendigkeit, denn da, wo sie wohnen, wären sie ohne Auto invalid, sprich fahrbehindert. Ein Statussymbol ist es auch. Es bringt Beachtung und damit Achtung, was zur Selbstachtung führt.
L'homme entien.

Die fünfte und höchste Stufe ist das Fliegen. Zwar wird man in eine Angströhre eingesperrt, doch der Zeitgewinn macht alles wett. Auch das Verhältnis zwischen Kosten und zurückgelegter Distanz ist derart vorteilhaft, dass ein grüner Rechthaber sein muss, wer nicht fliegt. In 24 Stunden um die Welt.
Le touriste. 

Selbst ist der wirklich Mobile

Diese fünf Stufen der Mobilität sind mit Absicht nach ihrem Energieaufwand geordnet. Wer zu Fuss geht oder Velo fährt, muss den Antrieb durch Muskelarbeit selbst schaffen, er ist der wahre Automobile, ein Selbstbeweger. Der Pilger, der Handwerksbursche auf der Walz und der Infanterist sind die Grundfiguren der ursprünglichen Mobilität. Erst seit knapp 200 Jahren ist das, was wir heute Mobilität nennen, überhaupt möglich geworden. Dazu brauchte es zuerst die Erfindung der Dampfmaschine, des Explosions- und des Elektromotors, sprich der Lokomotive und des Automobils.

Mit dem Industriezeitalter tauchen die Fremdbewegten auf, Leute, die auf Maschinen reiten. Wir betrachten staunend einen historischen Grund-bruch zwischen den handwerklichen Selbstbewegern und den industriellen Fremdbewegten. Dieser Unterschied ist fundamental, nur der Übergang von den Jägern und Sammlern zu den sesshaften, Landwirtschaft treibenden Bauern vor rund 10000 Jahren war von ähnlicher Wirkung. Zwischen den Selbstbewegern und den Fremdbewegten liegt eine historische Wasserscheide - in der Schweiz im Jahr 1848, dem wahren Geburtsjahr der Eidgenossenschaft. Der Bundesstaat löste den Kantonsbund ab, die Handels-und Wirtschaftsfreiheit hatte ihre Frühlingsblüte, der Nationalstaat nahm seinen Lauf. Die Eisenbahnen begannen mit der Produktion von Fremdbewegten.

Damit begann auch der das Land umformende Herstellungsprozess von Infrastruktur, der zur heutigen Schweiz führte. Unterdessen ist das Strassen-und Eisenbahnnetz so weit ausgebaut, dass wir unsere Form von Mobilität für gott- oder naturgegeben halten.

Die heutige Schweizerische Eidgenossenschaft hat Mutter und Vater: Eisenbahn und Automobil.

Schwungvoller Ablasshandel

Die Erfindung der Fremdbewegung ist die Erbsünde der Moderne.

Daraus hat sich eine Art von profaner Schuldtheologie entwickelt. Die Selbstbeweger sind die Reinen, die Fremdbewegten hingegen sind Sünder vor dem Fussabdruck. Wie im Religionsunterricht gelernt, gibt es drei Sündenstufen.

  • Wer mit dem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs ist, begeht eine lässliche Sünde, die zum Beispiel durch das Wählen von Grünen Absolution erlangt.
  • Wer mit dem Auto herumfährt, der begeht eine schwere Sünde, die echte Reue und Umkehr erforderte.
  • Wer aber fliegt, der begeht eine Todsünde, für ihn wird nur noch Heulen und Zähneknirschen sein.

An jenem jüngsten Tag, der nicht mehr so fern ist, wird die ausgebeutete Eide kommen, zu richten die Selbstbeweger und die Fremdbewegten. Denn wir haben nur noch eine Frist, und die nützen wir nach Kräften zu unserem Untergang. Tief im Bauch spüren wir: Dass es so weitergeht, das ist die Katastrophe.

Allerdings, niemand von uns ist nur Selbstbeweger, niemand von uns lebt vorindustriell, niemand bewegt sich nur mit Muskelkraft. Elektrisches Licht haben unterdessen Alle sind wir Reine und Sünder zugleich. Aber eine Gewissenserforschung, wie rein und wie sündig machen wir nie. Wir müssten unseren Lebensstil ändern, was eindeutig zu viel verlangt ist. Immerhin, den Abfall trennen wir säuberlich. Auf dem Dach blinkt die Solaranlage, im Keller brummt die Wärmekraftkoppelung. Wir wollen von unseren fremdbewegten Sünden freigesprochen werden und leisten dafür gute Werke. Sie sind betulicher Selbstbetrug. Unsere Ökologie ist Ablasshandel. Erlösung bringt er nicht, denn dass wir so weitermachen, das ist die wahre Sünde.

Was folgt aus diesem Ausflug in die ökologische Sonntagsschule?
Wie man es auch dreht und wendet, die Fremdbewegung ist philosophisch nicht haltbar. Auch ökologisch nicht. Wollen alle Chinesen ein Auto, worauf sie ein so gutes schlechtes Recht haben wie die Urschweizer, so bricht das Ökosystem zusammen. Wir japsen mit. Aus der Sünde wird eine Tatsache, die Moral wird alltagswirksam.

Es zeigt sich:
Alle Wirklichkeit ist körperlich.

Umgekehrt gilt auch:
Erst was körperlich ist, ist wirklich.

Nie mehr leiden

Denn die Mobilität hat uns von der Körperstrafe der Anstrengung erlöst. Das ist ihr Kern. Kein Tragen, kein Stöhnen, Ächzen, Seufzen, Keuchen, kein Schwitzen, keine wund gescheuerten Achseln; keine brennenden Füsse, kein Rückenweh, keine Blasen, keinen Wolf, kein Frieren, keine Nässe, keine Hitze, keine Erschöpfung. Nur noch Wohlgefallen und Leichtigkeit. Nur Angenehmes widerfährt uns.

Die heutige Mobilität ist die Abschaffung der uralten Körperstrafe. Das macht sie so attraktiv und unersetzlich. Das Prinzip Bequemlichkeit löscht jeden Gedanken an die Folgen aus. Das bequeme Jetzt ist immer wichtiger als das problematische Morgen. Darum zurück zur Preisfrage:

Ist die Mobilität ein Menschenrecht? Wenn nein, warum doch?
Weil sie uns erlöst. Sie verspricht: nie mehr leiden. Wir betrachten die Geburt der Moderne aus dem Geiste der Bequemlichkeit. Den fundamentalen Unterschied zwischen muskulärer und Maschinenkraft macht das Prinzip Bequemlichkeit. Wir werden getragen. Wir werden beschleunigt. Wir werden geschützt. Uns geht es gut. Noch nie ging es uns besser.

Die Mobilität erlaubt uns das bequeme Leben:
Weiter draussen wohnen, mehr Freizeitfahrten, weiter fliegen. All das kriegen wir billig.

Was tun?
Den Bequemlichkeitstrieb zu bekämpfen, ist aussichtslos. Eher verzichten wir auf den sexuellen.

Es hilft nur eines: bitte zahlen!
Dass man für einen Flug nach Berlin oder Rom weniger bezahlen muss als für ein Essen im Restaurant, ist nicht billig und recht, sondern unmoralisch und falsch. Mobilität ist Diebstahl. Wer fliegt, stiehlt den künftigen Generationen etwas von den endlichen Ressourcen dieser Erde. Darum soll er zahlen, was er verbraucht. Alles. Die Mobilität ist nur durch Kostenwahrheit zu zähmen.

Schulden machen schuldig

Heute zahlt, wer mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs ist; knapp die Hälfte, wer Auto fährt, zwar die Strassen, nicht aber die externen Kosten von rund 10 Milliarden Franken pro Jahr. Die Fremdbewegten werden massiv subventioniert.
Ist das ihr Menschenrecht?

Warum aber dürfen die Fremdbewegten auf Kosten der Selbstbeweger und der künftigen Generationen leben?

Weil sie in der Mehrheit sind. In der Demokratie ist die Bequemlichkeit die bedeutendste politische Macht. Die Mehrheit will weiterhin und vor allem noch mehr auf Pump fahren. Die, die es heute bequem haben, setzen durch, dass sie nur die Hälfte zahlen müssen. Den Rest bleiben sie schuldig und überlassen die Rückzahlung den kommenden Generationen.
Wer Schulden macht, wird schuldig.

Die Kostenwahrheit für Fremdbewegte ist keine moralische Forderung, sondern eine ökonomische Notwendigkeit. Es geht um die Zuteilung der Güter. Sind sie zu billig, werden sie vergeudet und fehlen denen, die sie später dringend benötigen.

Die Kostenwahrheit im Verkehr einführen heisst, aufhören auf Pump zu fahren. Alle sind wir für die Nachhaltigkeit, doch unbequem darf sie nicht sein. Uns erwartet allerdings ein unbequemes Erwachen.

Ist die Mobilität ein Menschenrecht? Wenn nein, warum nicht?

Weil sie unsere Zukunft ruiniert!

Bridge over a freeway near San Diego, USA - Image Ruedi Anneler
Bridge over a freeway near San Diego, USA - Image Ruedi Anneler

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